Elternrolle in der Pandemie – schicksalsergeben oder selbstbestimmt
Die Corona-Adaption der Raupe Nimmersatt aus der Feder der polnischen Grafikerin Martyna Wiśniewska-Michalak hat uns zum Artikel Zeit für sich – 7 Tipps für Me Time im Familienalltag inspiriert. Gleichzeitig beobachten wir entsetzt, wie hierzulande eine deutsche Plagiatsfassung als PDF über die verschiedenen Netzwerke verbreitet wird. Eine Vorgehensweise, die strafrechtlich relevant ist, ja. Eine Vorgehensweise, die absolut unfair und unsolidarisch gegenüber der Künstlerin und Mutter ist, ja. Aber vor allem fragen wir uns, was zum Henker an dieser Textfassung die deutschen Lockdown-Mamas begeistert. Anders als das Original ist das Plagiat kein Werk, dass einem hilft, mit einem parodistischen Blick die eigene Situation zu betrachten, dadurch Abstand herzustellen und sich verstanden und bestärkt zu fühlen. Das dort gezeichnete Bild der Elternrolle ist verzerrt und überholt.
Zunächst ähneln sich die beiden Textfassungen. Sowohl die müde Mama-Raupe als auch die Lockdown-Mummy versuchen die verschiedenen Herausforderungen der Corona-Pandemie in ihrer Familie zu meistern und den entstehenden Frust mit Essen zu kompensieren. Hier zu sehen, dass man mit dieser Situation nicht allein ist, tut unglaublich gut. Man kann sich darin wie in eine flauschig warme Decke kuscheln, sich im gefühlten Kollektiv selbst bedauern und mit dem Wissen, nicht alleine erschöpft und unzufriedenen zu sein, trösten.
Vollgefressen und der Lösung nicht näher gekommen, ziehen sich sowohl die müde Mama-Raupe als auch die Lockdown-Mummy zurück, um in der Verpuppung nicht nur Kraft zu schöpfen, sondern auch eine Verwandlung vorzunehmen bzw. eine Veränderung herbeizuführen. Bei genauerer Betrachtung und mit einem wachen Allgemeinzustand fällt es einem dann aber plötzlich schwer, sich als Lockdown-Papa oder Lockdown-Mama auf den letzten beiden Seiten der deutschen Textfassung wiederzufinden.
Geht es dir auch so? Kennst du die Geschichte und bist ebenfalls über die letzten beiden Seiten gestolpert und konntest oder wolltest dich nicht so recht darin wiederfinden?
Deutsche Textfassung – »Die unglaublich müde Raupe Mama-hat-Corona-satt«
»Sie zeigte den Kindern, wie man Oma anruft, schloss die Badezimmertür hinter sich, und verwandelte sich in einen Mama-Wrap. Eingewickelt blieb sie so liegen. Alleine. Sie fiel in einen tiefen Schlaf. Ohne Tritte, Schläge, plötzliche Nässe. Und am nächsten Tag …begann sie alles wieder von vorne, weil Mütter großartig sind und alles schaffen. Dass sie manchmal hysterisch oder überfressen sind, und Anzeichen der Schlafkrankheit haben, ist okay. Denn sie tut es für ihre Kinder.
Ein Enkel-Oma-Telefonat soll ausreichen, um … ja, um was zu tun? Eingewickelt auf dem Badezimmerboden der eigenen Müdigkeit zu erliegen? Bei einem ausreichend großem Erschöpfungszustand mag das ein tiefer, aber keinesfalls erholsamer Schlaf sein. Und dann? Dann begann alles wieder von vorne. What? Statt mit Nackenschmerzen erwacht die Lockdown-Mama wie Phönix aus der Asche und stürzt sich voller Elan, strahlend schön und feengleich in eine weitere Zeitschleife von »Und täglich grüßt der Lockdown-Wahnsinn«. Weil sie was ist? Weil sie großartig ist und alles schaffen kann.
Gegenfrage: Kann diese schicksalsergebene Haltung und fortwährende Aufopferung auf Kosten der eigenen Bedürfnisse eine gelingende Herangehensweise für die Bewältigung des Familienalltags sein? Sind damit die Herausforderungen während eines Lockdowns zu schaffen? Kurzfristig vielleicht ja, aber keinesfalls über einen längeren Zeitraum und erst recht nicht, wenn das Wohlergehen aller Familienmitglieder dabei ein Maßstab ist. Kurzum, uns erscheint es kurzsichtig, unreflektiert, nicht praktikabel und alles andere als großartig!
Originalfassung – »F*cking Tired Lockdown Mommy«
Ganz anders sieht das in der englischen Originalfassung aus. Statt der selbstgewählten Isolation im Bad und einem komatösen Erschöpfungsschlaf auf den Badezimmerfliesen, übergibt die Lockdown-Mummy das Ruder an den Lockdown-Dad und schließt sich im Schlafzimmer ein. Sie macht Dinge, die ihr gut tun … Wein trinken, Netfilxen, mit Freunden plaudern und ausschlafen. Sie nimmt sich Zeit, viel Zeit … einen Tag und eine Nacht. Sie fordert diese für sich ein und droht bei mangelnder Kooperation bzw. Zuwiderhandlungen mit schmerzhaften bis tödlichen Konsequenzen.
Natürlich ist die Lockdown-Mummy auch hier bei der nächsten Runde im Lockdown-Familienkarussell wieder dabei … weil sie zwar großartig, aber nicht unfehlbar ist. Es ist OK, nicht perfekt zu sein. Es ist OK, wenn einem nicht alles zu jeder Zeit gelingt, wenn man mal überfordert ist oder sich „gehen lässt“. Wir alle brauchen hier und da die Möglichkeit zum Luftholen und Durchschnaufen. Nur so schaffen wird all das. Im Originaltext wird nachvollziehbar, wie die Erstarkung am nächsten Tag gelingt. Sie resultiert aus der Selbstfürsorge. Da, wo wir den Blick für uns selbst nicht verlieren, können wir auch für andere da sein. Die Selbstfürsorge ist genauso wichtig, wie die Fürsorge für andere. Sie macht konstante Fürsorge erst möglich!
F*ucking German schicksalsergeben oder selbstbestimmt
Während die Lockdown-Mummy in der Originalfassung aktiv ihre Situation gestaltet, wirkt sie in der deutschen Textfassung passiv, schicksalsergeben, aufopferungsvoll und lässt die Umstände ihre Situation bestimmen. Zwar schließt sich die müde Raupen-Mama im Badezimmer ein, doch ganz offensichtlich nicht mit der Absicht, sich beispielsweise mit einem Entspannungsbad etwas Gutes zu tun. Wer auf dem Badezimmerboden (ein-)schläft, hat den Zeitpunkt für eine Pause oder Auszeit komplett verpasst. Auch wirkt es, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, mal nicht für die Kinder da zu sein. Anders als die Lockdown-Mummy schickt sie die Kinder nicht zum Papa – den es in der deutschen Textfassung gar nicht gibt – und schafft es sich abzugrenzen, sondern schleicht sich während einem Telefonat heimlich still und leise ins Bad.
Welche Schlussfolgerung bietet einem die deutsche Textfassung? Mütter sind nicht nur großartig, sondern geradezu übernatürlich? Sie nehmen ALLES hin, sie ertragen ALLES und – bis auf ein paar zu vernachlässigende Begleiterscheinungen wie Hysterie, Fressattacken und Müdigkeit – schaffen sie auch ALLES!? Ohne an sich selbst zu denken!? Was für ein verzerrtes Bild der Elternrolle! Warum kreist hierzulande ausgerechnet diese Plagiats-Fassung als PDF durch die Elterngruppen der Messinger-Dienste?
Warum teilen wir nicht Martyna Wiśniewska-Michalaks Originalwerk miteinander? Es beinhaltet keine F*cking German Schicksalsergebenheit, sondern die klare Aussage, dass Selbstfürsorge genauso wichtig ist, wie die Fürsorge für andere. Es ermutigt uns, die Balance zwischen den Bedürfnissen der Familie und den eigenen zu finden. Auch macht es uns deutlich, dass wir selbst für unsere Balance zwischen der eigenen Person und der Elternrolle verantwortlich sind. Mit diesem Bewusstsein, werden wir uns weniger den Umständen ausgeliefert sehen, sondern nach Gestaltungsmöglichkeiten suchen können.
Shame on you unglaublich müde Raupe Mama-hat-Corona-satt! Wir finden auch in Deutschland gilt während der Pandemie das Prinzip der Gleichberechtigung: Jeder in der Familie hat das Recht, dass es ihm gut geht!
Wie stehst du zur deutschen Textfassung? Schreibe es gerne in die Kommentare.
Deine
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